Eine Gewährleistung von Sicherheit und Zuverlässigkeit sollte usprünglich durch Bürokratie erfolgen: Einem Erlass aus Vorschriften, Bestimmungen und festgelegten Kompetenzen. Man wollte sich absichern gegen Schäden, Vorwürfe, Klagen und mangelhafte Qualität. Fakt ist, dass die heutige Überregulierung und das Ausmass an Dokumentationspflichten den Ärzten*, und damit auch Patienten*, das Leben schwer machen. Traurig, aber wahr: Für den Patienten bleibt immer weniger Zeit.
Rechtfertigungs-Bürokratie
Ausführlich, umständlich, unverständlich: Bis zu einem Drittel ihrer Zeit verbringen Ärztinnen und Ärzte mit Dokumentationen und Rechtfertigungs-Bürokratie. Dies führt nicht nur zu einer reduzierten Versorgung der Patienten, sondert steigert die Arbeitsbelastung der Ärzte unnötig. Ärzte in Krankenhaus und Arztpraxis bestätigen, dass die aufgebürdete Bürokratie zu einer hohen zeitlichen und auch persönlichen Belastung führen. Ärzte, Pflegekräfte und medizinisches Personal ertrinkt manchmal geradezu in Vorschriften, Anträgen und (sinnlosen, nichtsdestrotrotz umfangreichen) Formularen.
Bürokratie-Index
Die KBV legt inzwischen jährlich die Bürokratiebelastung für niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten vor. 2020 wurden für die Erledigung der notwendigen Informationspflichten rd. 55,8 Millionen Nettoarbeitsstunden gemessen, oder rd. 61 Tage pro Praxis. Das bedeutet, rund ein Viertel der jährlichen Arbeitsstunden wird alleine in der Arztpraxis für Bürokratie aufgewendet. Es zeigte sich, dass rund zwei Drittel der Tätigkeiten vom Arzt selbst durchgeführt wurden, und nur knapp ein Drittel von den MFA.
Die Top Drei der Bürokratie, die zeitlich umfangreichsten Informationspflichten:
- Verordnungen und Bescheinigungen (38%)
- Qualitätsmanagement, Qualität in der Versorgung (28%)
- Auskünfte an Kostenträger Krankenkassen und MDK (19%)
Das bedeutet: jede fünfte Dokumentationspflicht ist eine detaillierte Rechtfertigungspflicht.
1 Stunde täglich für Ihre Patienten?
Im Schnitt verbringt jeder zweite Arzt rund drei Stunden täglich mit Bürokratie, jeder dritte sogar vier Stunden. Vor zehn Jahren war es nur jeder zehnte Arzt, der über drei Stunden Verwaltungs- und Bürokratie-Arbeit klagte. (vgl. Studie des Marburger Bunds 2020).
Fast 90% der Ärzte wünschen sich deutlich weniger Dokumentations- und Verwaltungsarbeit. Sie wollten statt dessen mehr Zeit für Patienten (drei Viertel der Befragten). Oder weniger Patienten. (Befragung im Auftrag der apoBank 2022). Damit Ärzte wieder mehr Zeit für ihre eigentliche Tätigkeit haben.
Dies bedeutet: Von acht regulären Stunden (- und ich weiß, es ist oftmals deutlich mehr) haben manche Ärzte nur 50% der Zeit zur Verfügung für medizinische Tätigkeiten. Und auch diese umfassen oft weitere planerische Aktivitäten, Früh-Besprechung, Meetings und Konferenzen, Weiter- und Fortbildungen - da bleibt für die Behandlung der Patienten eine Stunde täglich übrig. Dies ist weder für Ärzte noch für die Patienten akzeptabel.
Bürokratie für Medizin-Studenten
Würde man den Medizinstudenten sagen, dass all die Studieninhalte wie Anatomie, Physiologie, Physik, Psychologie u.a. sowie die klinische Fachspezialisierung in späteren Jahren ggf. nur 50 - 70 Prozent ihrer späteren Tätigkeit ausmachen, würden sie sich zu Recht wundern. Es kann frustrierend sein, 30% bis 50% der Tätigkeit mit Verwalten, Dokumentieren, Anträge schreiben zu verbringen.
Die Bürokratie für Studenten beginnt bereits im Bewerbungsprozess um einen Studienplatz. Bewerber werden weiterhin an den medizinischen Fakultäten abgelehnt aufgrund zu geringer Kapazitäten. Mittels Numerus Clausus werden diejenigen Studenten ausgewählt, die über die besten Noten verfügen. Noten allein sind nicht alles, und sagen nichts aus über die spätere Ausübung der Tätigkeit. Weitere Kriterien sollten berücksichtigt werden. Ebenso sind die Inhalte und Anforderungen zur Erlangung des Abiturs in Deutschland je nach Bundesland unterschiedlich schwer. Um dem Ärztemangel zu begegnen braucht es weitsichtige Konzepte, die bereits bei der Ausbildung des Nachwuchses / dem Studium beginnen, und den Beruf sowie die Tätigkeit attraktiv gestalten.
Unnötige Belastungen durch Bürokratie
Die Motivation vieler Ärzte ist es, Leben zu retten, zu heilen, Leid zu lindern. Das ist es, wofür sie angetreten sind. Sie übernehmen Verantwortung und leisten einen wichtigen Dienst für die Gesellschaft und natürlich für die Menschen, denen sie helfen können durch die direkte Behandlung oder Forschung. Dokumentation und Datenerfassung ist selbstverständlich Teil der Tätigkeit. Wenn diese jedoch einen unverhältnismäßig großen Anteil der eigentlichen Arbeit einnimmt, sollte man über neue Berufsbilder oder ergänzende Assistenzfunktionen nachdenken, um Ärzte zu entlasten. Hochausgebildete Ärztinnen und Ärzte müssen sich heute oft doppelt und dreifach absichern, Medikationen und Kosten begründen, alle aktuellen (Datenschutz-)Regeln einhalten, Qualitätsmanagement betreiben und sich verschiedenen Stellen rechtfertigen für ihre medizinische Entscheidung. Das belastet das Gesundheitssystem mit hohen Kosten, und es belastet Ärzte persönlich durch vermehrten Zeitaufwand.
Vorteile durch Halbierung der Bürokratie
Alle sprechen vom Ärztemangel - im Jahr 2030 würden allein in Deutschland über 110.000 Ärzte fehlen. Die Kapazitäten könnten steigen durch eine Reduzierung der Bürokratie. Eine Halbierung der Bürokratie - bei 3 Stunden Verwaltungstätigkeit täglich - würde einem Plus von rd. 4.000 Ärzten im deutschsprachigen Raum entsprechen. Das sind zwar nicht einmal 1% der Ärzteschaft, doch angesichts des Ärztemangels und einer steigenden Versorgungslücke ist dies immerhin ein Anfang.
Meine Erste Hilfe Tipps: Weniger Bürokratie, mehr Zeit für die Patienten
Was können Sie selbst sofort tun zur Reduzierung von Bürokratie? Politische Entscheidungen können z.B. durch Verbände positiv beeinflusst werden. Handlungsspielraum und eine gewisse Macht - zumindest Entscheidungsmacht - hat jeder von Ihnen. Sie können die Verhältnisse oft nicht sofort ändern, aber entscheiden, wie Sie damit umgehen möchten. Sie können Ihr Mindset, Ihre Einstellung beeinflussen, indem Sie offen durch Ihre Klinik / Ihre Praxis gehen und nach Vereinfachungspotenzial schauen. Sie können Ihr Team einbinden dazu. Auch kleine Aktivitäten können für Sie und Ihre Patienten eine große Wirkung haben.
- analysieren Sie, wohin Ihre Zeit verschwindet: Welche sich wiederholenden Tätigkeiten sind "Zeitfresser"?
- überlegen Sie, welche Themen Sie reduzieren können
- legen Sie fest definierte Zeitfenster für Ihre Tätigkeiten fest (Zeit dehnt sich aus in dem Maße, wie sie genutzt werden kann -> Parkinsonsches Gesetz)
- bündeln Sie die gleichen Aktivitäten (Telefonate, Mails, Briefe schreiben)
- können Sie Aufgaben delegieren oder an externe Dienstleister vergeben? (z.B. Schreibstube)
- überdenken Sie grundsätzlich die Strukturen: Nicht alles, was auf Ihrem Schreibtisch liegt, ist vielleicht tatsächlich Ihr Projekt
- schaffen Sie interne „selbstgesetzte“ Hürden ab: Können Formulare vereinfacht werden? Protokolle verkürzt werden? Können Wertgrenzen verändert werden (Unterschriftenregelungen, Freigabregelungen)?
Fragen Sie sich bei Themen, worauf Sie selbst Einfluß haben. Idealerweise planen Sie monatlich 2 Stunden ein für Optimierungspotenzial, und wählen ein Thema je Monat aus, z.B. Meetings optimieren, Abstimmungszeiten reduzieren, Dokumentationspflichten bündeln, etc.
Folgende Fragen können Sie sich (und Ihrem Team) hierzu stellen:
- unterstützt es die Sicherheit des Patienten?
- dient es unserer eigenen Absicherung?
- gibt es rechtliche Vorgaben, die wir erfüllen müssen?
Wenn Sie die Fragen mit "JA" beantworten können:
- Wie können wir den Prozess vereinfachen?
- Wodurch kann der Ablauf verkürzt werden?
- Wie können wir die Inhalte weiter reduzieren?
- Was können wir weg lassen (vielleicht ist es nicht mehr aktuell / nicht mehr nötig?)
- Wer könnte es noch erledigen? (Evtl. sogar besser oder schneller?)
- Gibt es „Best-Practice-Beispiele“? (Im Internet, bei anderen Kliniken/Arztpraxen? In anderen Ländern?)
*Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird hier oftmals nur ein Geschlecht verwendet.
Dank: Foto von Sear Greyson auf unsplash.com
Beitrag von Diana Runge, Gründerin docopulco & Online Coach für Chefärzt/innen